43 Jahre Soziale Arbeit – Ein persönlicher Rückblick

Wie alles begann 

Wenn ich heute auf mein Berufsleben zurückblicke, besonders in den letzten Monaten meiner Tätigkeit, ist da ein starkes Gefühl: Ich habe die Schnauze voll. Dieses Gefühl ist drängend – und es hat sich über viele Jahre aufgebaut. Es war nicht immer so. Ich habe auf meinem Weg in der sozialen Arbeit viele bedeutende Erfahrungen gesammelt, viel Sinnhaftigkeit erlebt, mich engagiert – aber ich habe auch Erschöpfung, Frustration und Grenzen gespürt.

Nach dem Abitur begann ich ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ), weil ich als Kriegsdienstverweigerer vor dem Prüfungsausschuss nicht anerkannt worden war und somit keinen Zivildienst beginnen durfte. Ich legte Widerspruch ein, der aufschiebende Wirkung hatte, und wartete auf die Entscheidung der zweiten Instanz. Da ich nach der Schule eigentlich direkt den Zivildienst absolvieren wollte, entschied ich mich ersatzweise für das FSJ.

Erste Erfahrungen, erste Berufung

Ich leistete mein FSJ in einer offenen Alteneinrichtung, die zahlreiche Serviceleistungen für die Menschen aus dem umliegenden Wohngebiet anbot – Mittagstisch, Cafeteriabetrieb, Freizeitangebote, Beratung und mobile Hilfen. Sehr schnell hatte ich große Freude an der Arbeit. Ich fühlte mich als Teil des Teams und wollte mich einbringen. Besonders interessierten mich die sogenannten „schwierigen Fälle“. Ich suchte geradezu den Kontakt zu diesen Menschen, um bei ihnen Haushaltshilfen zu übernehmen – etwa bei dem Mann, der mehr Bier als Nahrung zu sich nahm und dessen Kleidung regelmäßig gereinigt werden musste. Oder bei dem, der in einem Messi-Haushalt lebte. Solche Fälle reizten mich.

Ich interessierte mich auch für die Strukturen des Trägers, wollte verstehen, wie Entscheidungen getroffen wurden, und nahm gerne an Arbeitskreisen und Versammlungen teil. Schon damals wurde mir klar: Mein Weg wird in die Soziale Arbeit führen.

Das Studium – fachlich fundiert, aber mit Freiraum

Ich bewarb mich um einen Studienplatz für Soziale Arbeit – damals war der Andrang groß, aber mein FSJ wurde mir als Bonus angerechnet. Das Studium gefiel mir gut. Zum Glück war es damals noch nicht so verschult wie heute, und ich hatte genügend Freiräume, um Gitarre zu spielen und Jazz zu hören. Besonders das Praxissemester in der Sozialplanung begeisterte mich.

Ein nachgeholter Zivildienst – und wichtige Erfahrungen

Während des Studiums wurde mein Antrag auf Kriegsdienstverweigerung schließlich doch anerkannt – und so hatte ich nach dem Abschluss noch meinen Zivildienst zu leisten. Ich arbeitete in der häuslichen Pflege und bei mobilen Haushaltshilfen. Das war noch einmal eine ganz andere Herausforderung – aber im Nachhinein sehr wertvoll. Nach ein paar Monaten durfte ich ins Büro wechseln und war dort in Beratung und Organisation tätig. Danach übernahm ich als Mutterschaftsvertretung eine befristete Stelle im gleichen Bereich. Ich fühlte mich erfolgreich und bestätigt, dass man mir diese Aufgabe zutraute.

Arbeitslosigkeit – eine harte Zäsur

Doch nach einem halben Jahr kehrte die Kollegin zurück – und ich war arbeitslos. Diese Phase war nicht leicht. Sie löste Unsicherheit und Zukunftsängste aus. Anfang der 90er Jahre war es noch nicht selbstverständlich, als Sozialarbeiter*in schnell eine neue Stelle zu finden. Nach viereinhalb Monaten bekam ich dann eine Anstellung in der Verwaltung, im Bereich der Flüchtlingsarbeit – während der ersten großen Flüchtlingswelle durch den Jugoslawienkrieg.

Flüchtlingsarbeit – jung, gefordert, getragen vom Team

Für einen jungen Menschen war das eine sehr herausfordernde Arbeit. Zum Glück wurde das Team bald erweitert, und die gute Zusammenarbeit war eine große Hilfe. Wir konnten auch lachen – trotz der Belastung – über Anekdoten aus dem Alltag, über die kleinen Absurditäten, die die Arbeit mit sich bringt.

Als die Zuwanderung zurückging und der Fachdienst Asyl aufgelöst wurde, wurden wir Kolleg:innen auf andere Stellen verteilt. Ich kam ins Jugendamt – und bin dort geblieben. Jetzt seit 30 Jahren.


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Die Zeit im Jugendamt – Aufbruch, Zusammenarbeit, Vertrauen

Die ersten Jahre im Jugendamt waren sehr gut. Es herrschte Aufbruchsstimmung. Sieben neue Teams wurden gebildet, mit dezentralen Zuständigkeiten. Wir arbeiteten in überschaubaren Bezirken. Viele Aufgaben, die vorher von spezialisierten Fachdiensten übernommen worden waren, wurden nun direkt vor Ort im kleinen Team bearbeitet. Ich fand das ungemein spannend – es erinnerte mich an den Beginn meines FSJ. Wieder reizten mich die schwierigen Fälle.

Wir hatten fachlich sehr gute Strukturen im Team. Kollegiale Beratung war ein zentraler Bestandteil – niemand war allein mit schwierigen Situationen. Gespräche führten wir oft zu zweit, um uns gegenseitig zu unterstützen. Die Kooperation im Stadtteil mit anderen Stellen war gewünscht und wurde aktiv gepflegt. Das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz wurde nun in der Praxis lebendig – wir konnten neue Hilfen kreativ umsetzen. Auch von der Leitungsebene gab es Rückhalt. Fortbildungen waren möglich, sogar teambezogen. Eine differenzierte Trägerlandschaft entwickelte sich, und es war möglich, passgenaue Hilfen für Familien zu organisieren. Die Arbeitsbelastung war überschaubar.

Systemwechsel und Dauerbelastung

Dann aber kam Anfang der 2000er ein politischer Wechsel in der Stadt. Eine neue Verwaltungsreform wurde umgesetzt. Aus sieben Teams wurden drei, Zuständigkeiten vergrößert – und Personal wurde abgebaut. Mitte der 2000er war eine Überlastungssituation erreicht, die im Grunde bis heute besteht. Seit gut 20 Jahren habe ich unter dieser Dauerbelastung gearbeitet. Man wurde nie fertig, rannte der Arbeit hinterher. Gesetzesänderungen führten meist zu mehr Bürokratie – nicht zu Entlastung.

Frust und Engagement – ein Wechselspiel

Mit den Jahren machte sich Erschöpfung breit. Meine Motivation nahm spürbar ab. Ich habe mich engagiert in Gremien, Arbeitskreisen, zur Verbesserung der Arbeitssituation. Doch durchschlagende Veränderungen blieben aus. Auch das ist frustrierend.

Und doch gab es immer auch Lichtblicke. Besonders schön war es, dass zunehmend junge Kolleginnen in die Teams kamen. Es hat mir Freude gemacht, meine Erfahrung weiterzugeben. Wenn ich mich heute verabschiede, dann mit dem Gefühl, dass ich einigen etwas mitgeben konnte. Dass ich meinen Teil beigetragen habe. Und dass ich mich jetzt mit gutem Gewissen in den Ruhestand verabschieden darf.

Herr Jugendamt – ein Abschied, der auch ein Bleiben ist

Das Jugendamt ist tief in meiner Identität verwurzelt. Auch im Ruhestand werde ich mich weiterhin für Jugendamts-Themen interessieren. Eine Mutter, für deren Familie ich einmal eine Erziehungshilfe organisiert hatte, sagte damals zu mir: „Sie sind doch der Herr Jugendamt.“ Ich habe diesen Begriff später oft spaßhaft übernommen. Und tatsächlich: Ein bisschen habe ich mich oft so gefühlt – als Herr Jugendamt.

Jetzt ist dieser „Herr Jugendamt“ heilfroh, sich aus dem Alltagsgeschäft zu verabschieden: aus den verrückten und komplexen Familienkonstellationen, aus den Situationen mit Jugendlichen, denen man beim besten Willen nicht helfen kann – obwohl man es versucht. Es war eine Arbeitswelt, die mich lange gereizt hat, die mir viel abverlangt, aber auch viel gegeben hat.

Viele sagen: „Ich mache die Arbeit eigentlich gerne – aber es ist einfach zu viel.“ Und so ist es. Auf Dauer hält man das kaum durch. Einige haben sich beruflich verändert. Ich bin geblieben – 30 Jahre im Jugendamt – und ich bin dankbar. Für einen guten fachlichen Standard. Für die Eigenverantwortung, die mir zugetraut wurde. Für viele tolle Kolleginnen, für gute Teams. Und für ein paar Freundschaften, die das Berufsleben überdauern werden.

Jetzt ist es Zeit, loszulassen. Aber Herr Jugendamt bleibt ein Teil von mir – vielleicht leiser, aber nicht verschwunden.

Und was kommt jetzt?

In Zukunft möchte sich der „Herr Jugendamt“ neu erfinden – und sich mit anderen Themen zu Wort melden. In diesem Blog wird es künftig auch um meine Herzensthemen gehen: um das Leben mit meinen Enkelkindern, um den Garten, Natur, Wandern, Reisen, Jazz, Musik, ums Kochen – und vielleicht auch um das Älterwerden.

Die Arbeit hat mich geprägt – aber sie ist nicht alles. Ich freue mich auf das, was kommt.

Kommentare

  1. Schöner und interessanter Beitrag, danke Bernd! Ich freue mich wenn du dich in Zukunft vielleicht auch noch weiter mit den sozialen Themen und auch gesellschaftsrelevanten- und auch kritischen Themen auseinandersetzt! Und schön, dass du zurück blickst und dich freust dein Wissen weitergegeben zu haben- da finde ich mich natürlich wieder und bin sehr dankbar und froh dass ich so viel von dir lernen durfte :-)

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